Die Zeit in Bacalar neigt sich dem Ende zu, und wir müssen unsere Taschen packen. Unser nächstes Ziel – Holbox – ist im Norden der Halbinsel zu finden. Wir sind gegenwärtig aber ganz im Süden, an der Grenze von Belize. Uns steht also ein Reisetag bevor. Eine der Schwierigkeiten in Mexico besteht darin, Informationen über Transportmöglichkeiten zu bekommen. Als verwöhnter Mitteleuropäer weiss man, dass in unserer alten Heimat alles irgendwo zu finden ist – entweder im Internet oder es gibt zuverlässige Informationen, Infotafeln oder einen Busfahrplan, der an der Haltestelle aushängt.
In Mexico gibt’s gar nichts davon. Mit einer Ausnahme: der ADO – ein privater Busbetreiber. Die haben es zumindest geschafft, eine vernünftige Internetseite zu erstellen, wo man Fahrplanauskünfte bekommt und sogar Tickets buchen und kaufen kann. Das empfiehlt sich manchmal, denn bei den ADO-Ticketschaltern sind oft superlange Schlangen und man wartet nicht selten eine halbe bis dreiviertel Stunde, bis man endlich an der Reihe ist. Ein grosses ABER gibt es: die ADOs lassen sich das nicht schlecht zahlen. Gut, fairerweise muss man sagen, dass die Busse gut ausgestattet sind (sie nennen es hier «luxuriös», bei uns läuft so etwas dann eher unter «normaler Standard»). Unterm Strich bedeutet das: der/die/das ADO ist – nach den privaten Taxis logischerweise – die zweitteuerste Variante der Fortbewegung in Mexico. Es ist ja nicht so, dass es keine Alternativen gibt – im Gegenteil: es gibt einen ORIENTE-Bus, einen MAYAB-Bus, vermutlich noch viele andere Busunternehmen und die Combis/Colectivos, die preisgünstig von Stadt zu Stadt gurken. Aber – und somit komm ich auf das oben Erwähnte zurück – die geben so gut wie keinerlei Informationen irgendwo zum Nachlesen raus. Man muss sich durchfragen, meistens redet man mit den Chauffeuren selbst, die selten Englisch können. Jeder sagt was anderes. Wenn man drei unterschiedlichen Fahrern dieselbe Frage stellt, bekommt man vier verschiedene Auskünfte. Und je nach Tageslaune bezahlt man als Ausländer dann einen «Gringo-Zuschlag», denn nicht selten machen sie die Preise wie sie grad lustig sind.
Wie dem auch sei – wir starten früh morgens los, damit wir am Abend in Holbox sein können. Wir wissen noch gar nichts – weder, welche die beste Route ist, noch ob und wo wir umsteigen müssen, ja nicht mal ob überhaupt was geht. Als zusätzliche Challenge muss der Freund von Judith uns heute auch verlassen, da seine zwei Wochen schon wieder rum sind. Das bedeutet, er muss nach Cancun, da sein Flieger spät am Abend wieder zurück in die Heimat geht. Mit vielen Fragezeichen erreichen wir die Bushaltestelle in Bacalar. Wie es der Zufall will, steht ein Bus mit der Aufschrift «Cancun» bereits dort. Die Route über Cancun nach Holbox ist aber eher ein Umweg. Doch an der Haltestelle und am Ticketschalter weiss gar niemand irgendetwas. Alles, was über die Regionsgrenze hinausgeht, übersteigt auch gleichzeitig den Wissenshorizont der Mitarbeiter. Leider ist Bacalar in Quintana Roo, und Holbox befindet sich in der politischen Region Yucatan. Eine unlösbare Aufgabe für die dortigen Bediensteten, und so entscheiden wir uns kurzfristig dafür, eben nach Cancun zu fahren und uns von dort aus weiter durchzufragen.
Wie hier so üblich wird die Innentemperatur des Reisebusses auf arktisches Niveau heruntergekühlt. Bereits nach 5 Minuten schlottert man wie ein Nordpolforscher im Stringtanga bei einem Schneesturm. Wir kommen aber wohlbehalten und etwas durchgefroren in Cancun an. Das Fragen geht weiter, und nachdem wir nicht wirklich vernünftige Auskünfte erhalten, entscheiden wir uns dieses Mal für einen der teuren ADO-Busse. Wir nehmen Abschied von Judiths Freund – der schlussendlich übrigens wohlbehalten zuhause ankommt – und fahren nach Chiquila. Dort befindet sich der Fährhafen für die Überfahrt nach Holbox. Für die Fähre sind nochmals 220 Pesos (ca. 9,50 EUR) fällig. Die Sonne ist bereits untergegangen, aber wir finden den Weg zu unserer Unterkunft und fallen dann ziemlich geschafft in unsere Betten.
Holbox ist eines der konträrsten Orte, die wir bislang besucht haben. Man kann es mit zwei Augen sehen, zwei Gefühlswelten, mit zwei komplett unterschiedlichen Sichtweisen.
Holbox durch die rosarote Brille
Holbox ist ein vollkommen verschlafenes Nest auf einer Insel im karibischen Meer. Hier gibt es keine Strassen, nur Sandpisten. Nur ein paar Versorgungsfahrzeuge fahren hin und wieder durch die Strassen. Ansonsten sind Fahrräder und Mopeds die bevorzugte Fortbewegungsart, Autos gibt es so gut wie keine. Hier laufen die Uhren um einiges langsamer als sonst wo. Die vielen kleinen Bars, Restaurants und Geschäfte laden zum Verweilen ein. Es ist teilweise unendlich kitschig und fühlt sich an wie in einer Südsee-Schnulzen-Seifenoper. Das azurblaue Wasser und der unendlich lange, weisse Sandstrand, das seichte, fast spiegelglatte Wasser und die Badewannentemperaturen geben einem das Gefühl, in einer anderen Welt angekommen zu sein. Man hat das Gefühl, alle sind gechillt und zufrieden. Die Gebäude, Hotels und Hostels sind in einer verspielten, verträumten urbanen Holzoptik gebaut. Teakholzmöbel, Holzgeländer, Hängematten, Hängesessel. Der karibische Traum, von dem man nie mehr Aufwachen möchte.
Holbox durch die graue Brille
Holbox ist ein vollkommen verschlafenes Nest. Die Versorgungsmöglichkeiten sind mehr als dürftig, es gibt ein paar Läden, die ihre Waren allerdings um ein drittel teurer anbieten als auf dem Festland (obwohl es nur gute 20 Minuten mit der Fähre entfernt ist). Statt Strassen gibt es Sandpisten, viele davon stehen nach einem Regenguss tagelang unter Wasser und sind unpassierbar. Manche davon sogar über Monate. Neben Fahrrädern fahren hier krachend laute Mopeds den ganzen Tag auf und ab. Das nervigste allerdings sind die «Golfcars», die sich hier durchgesetzt haben. Die sind alle mehr oder minder mit Rasenmähermotoren ausgestattet und machen ohrenbetäubenden Lärm von früh bis spät. Man kann keine Strasse queren, ohne dass nicht eines der nervigen Dinger deinen Weg kreuzt – da sie offiziell zu einem unverschämt hohen Preis gemietet werden können. Und die Gelegenheit lässt sich kein Tourist entgehen. Vor allem morgens und abends sind die Strassen vollkommen verstopft mit den lauten, stinkenden Dingern, was die Nerven und Gehörgänge an die Grenze der Belastbarkeit bringen. Am Strandabschnitt und an der First Line findet der Hipster-Reisende alle überteuerten Hotels, die sein Herz begehrt. Die Bars und Restaurants verkaufen ihre Cocktails jenseits der 8,- EUR Grenze. Es gibt so gut wie keinen Strandabschnitt, der nicht bereits von einem Hotel in Beschlag genommen wurde und der exklusiv nur für Hotelgäste reserviert ist. Für den gewöhnlichen Strandbesucher bleiben die wenigen, schattenlosen Plätze, um die sich alle Touristen raufen, die sich keines der schicken Hotels in der ersten Strandlage leisten möchten. Der karibische Albtraum.
Holbox schafft sich selbst ab
Obwohl obiges überspitzt formuliert ist, tragen beide Varianten die Wahrheit in sich. Holbox wird als eines der letzten unentdeckten Perlen Yucatans gepriesen. Dort, wo es noch ursprünglich, nicht überlaufen und wunderschön sein soll. Doch leider ist es fast gar nichts mehr davon. Wir können uns vorstellen, wie die Insel noch vor ein paar Jahren ausgesehen hat. Und dass es damals noch wirklich das wunderschöne, ursprüngliche, verschlafene Nest war, von dem alle träumen. Doch der Tourismus hat hier Einzug gehalten. Und das nicht zu knapp. Wir sehen überall Baustellen, ein Komplex entsteht neben dem nächsten. Luxusresorts mit «All Inclusive» locken die betuchten Gäste, und Möchtegern-Instagram-Influenzer sind mit ihren iPhones auf der Jagd nach dem nächsten 1.000-Likes-Shot. Die Strassen sind voll von Touristen und alle tun so, als hätten sie den Spass ihres Lebens. Ruhe findet man hier keine mehr.
Wir finden Holbox schön. Es hat noch ein bisschen was von dem gepriesenen Charme behalten, die Strände sind tatsächlich unendlich lang, wunderschön und traumhaft. Doch nur wer das Geld übrighat, kann sich eine Liege mit Schirm um 10 – 15 EUR Tagesmiete kaufen. Der Preis versteht sich selbstverständlich pro Liege. Die anderen müssen sich mit der «Ersatzbank» begnügen. Wir glauben, dass es in ein paar Jahren – eher früher als später – vollkommen dem (Luxus)Tourismus verfallen wird. Bereits jetzt wuseln nahezu ausschliesslich Besucher aus der ganzen Welt auf der Insel. Einheimische gibt’s nur noch in Form von Hotel-, Bar oder Restaurantbesitzern. Früher oder später wird es mehr Schein als Sein. Ursprünglich ist es heute schon nicht mehr, das kleine, verschlafene Fischerdorf von einst. Sehr schade.
Trotz allem verbringen wir eine tolle Zeit auf Holbox. Wie so üblich geben wir uns nicht dem «ich-muss-alles-machen» Aktionismus hin. Wir geniessen die Zeit ohne Speedboatfahren, ohne Jetskis und Bananenboot-Reiten. Bei unseren Spaziergängen stossen wir wieder auf die vielen kunstvollen Street-Art-Gemälde. Gerade hier auf Holbox finden sich unglaubliche Kunstwerke, fast alle Häuser sind hier bunt verziert und bringen künstlerischen Charme in die leider überfüllten Sandstrassen. Auf einem unserer Spaziergänge entdecken wir einen Kolibri, der gerade Nektar aus einer Blüte holt – für uns der erste, den wir in freier Wildbahn sehen. Der flinke, kleine Vogel bricht einige Rekorde in der Tierwelt. So bringt er es beispielsweise auf 40 – 60 Flügelschläge - pro Sekunde! So schnell sieht kein Auge. Doch der Kleine hat noch mehr auf dem Kasten. Er ist der einzige Vogel der Welt, der auch rückwärts und seitwärts fliegen kann. Und auch in Sachen Geschwindigkeit braucht er sich ganz und gar nicht zu verstecken – so zählt man ihn zum schnellsten Wirbeltier der Welt. Bei ihren Balzflügen erreichen sie eine Geschwindigkeit von über 380 Körperlängen pro Sekunde, was einer Geschwindigkeit von rund 100 km/h entspricht. Zum Vergleich: ein Wanderfalke, der gemeinhin als schnellstes Tier der Welt gilt, erreicht im Sturzflug «nur» 200 Körperlängen pro Sekunde. Schon fast lahm dagegen ein Kampfjet mit 40 Längen pro Sekunde. Fantastische Tierwelt.
Leider bleibt mein grosser Traum, einmal mit Walhaien zu schwimmen – auch hier unerfüllt. Denn auf Holbox wäre es tatsächlich möglich. Die Gewässer sind bekannt für die sanften Riesen. Doch leider ist zurzeit keine Walhai-Saison, und somit muss ich auf eine neue Gelegenheit warten. Die Region rund um Holbox ist allerdings noch für ein weiteres Naturschauspiel bekannt: Biolumineszenz! Das bei Dunkelheit leuchtende Material dürften viele vermutlich noch aus ihrer Kindheit in Form von Aufklebern oder Spielzeug kennen. Und wer den Film «The Life of Pi» gesehen hat, hat sicherlich noch die Szene mit dem leuchtenden Meer in Erinnerung. Das ist keine Fiktion. Tatsächlich ist das sogenannte «Meeresleuchten» eine Reaktion von Plankton, das durch Strömungsveränderungen ein schwaches Licht aussendet. Wie ein Glühwürmchen – nur in millionenfacher Ausführung, allerdings auch viel kleiner und längst nicht so lichtstark.
Da wir für eine geführte Tour keine 20 US-Dollar pro Person hinblättern wollen, entscheiden wir uns, auf eigene Faust los zu ziehen. Wir wissen, wo die besagte Stelle in Holbox ist – nämlich am Playa Punto Cocos. Spät nachts um etwa 1:30 Uhr machen wir uns mit unseren Stirnlampen auf den Weg. Nach rund 30 Minuten Fussmarsch erreichen wir das Ziel. Doch wir haben Pech. Das Mondlicht ist viel zu hell. In ein paar Tagen ist Vollmond. Dadurch ist der Effekt so gut wie unsichtbar, da das Mondlicht alles überstrahlt. Unsere Hoffnung war, dass durch vorbeiziehende Wolken das Licht so stark gedämpft wird, dass wir das Leuchten sehen können. Doch bis auf ein ganz schwaches, kaum wahrnehmbares Schimmern sehen wir nichts. Relativ enttäuscht stehen wir drei im lauwarmen Wasser und sind froh, dass wir uns die 60 Dollar gespart haben, denn das hätte uns noch mehr geärgert. Wir schauen gegenseitig in unsere ratlosen Gesichter und entscheiden nach gut 1 Stunde, uns auf den Heimweg zu machen. Die Wirkung des Anti-Mücken-Sprays lässt langsam nach, und erneut wird uns klar, dass es auf Holbox eine echte Moskito-Plage gibt. Die Biester sind nahezu rund um die Uhr unterwegs und würden einen auffressen, wenn man sich nicht alle 4 Stunden mit Repellents einsprühen würde. Uns bleibt nichts anderes übrig, als so schnell wie möglich zu gehen und zu hoffen, dass uns die Plagegeister nicht folgen und einholen können. Doch natürlich nützt das nur bedingt und wir werden mit Mückenstichen übersät. Auf den letzten Metern vor unserem Hotel werden wir aber dann doch noch mit einem kleinen Highlight belohnt: Magdalena entdeckt ein kleines, süsses Tierchen in einem Baum. Wir denken zuerst an eine Katze, als wir näherkommen sehen wir aber tatsächlich einen Waschbären. Und gleich nebenan sind nochmals zwei. Auch diese putzigen Tiere haben wir noch nie in freier Wildbahn gesehen. Wir verbuchen die Nacht am Ende zwar als wenig erfolgreich, aber immerhin war es kein kompletter Leerlauf.
Die restlichen Tage verbringen wir ganz gemütlich. Unsere Unterkunft – die fast direkt neben der Startbahn des lokalen Flugfeldes liegt - hat alles, was wir brauchen und wir sind auch sehr zufrieden damit. Ein bisschen schaffen wir es, uns in Holbox einzuleben. Ich gönne mir wieder einmal einen Barber, der den Lifestyle der Insel wirklich lebt. Während der Verwöhnprozedur mit Gesichtsmaske und Massage gibt Alan auch seine tänzerischen Fähigkeiten zum Besten. Immer wieder «muss» er während des Haarschnitts unterbrechen, weil er bei der Musik, die lautstark aus den Lautsprechern des Friseursalons tönt, voll mitgeht und seine Moves quer durch den Salon zelebriert. Was für ein geiler Friseurbesuch!
Wir geniessen den schönen Strand und das herrliche Wasser. Die Pelikane treiben hier so dicht an den Badegästen, dass man nicht selten keine 2 Meter neben den stattlichen Tieren vorbeischwimmt. Die sind die Badegäste allerdings gewohnt, denn sie lassen sich kein bisschen aus der Ruhe bringen. Wir unternehmen Spaziergänge durch das Dorf mit den zwei Gesichtern und lassen uns von einem netten Verkäufer breitschlagen, an einer Tequilaverkostung teilzunehmen. Ich muss zugeben, dass ich wirklich überrascht bin. Denn Tequila gibt es wirklich in unheimlich vielen verschiedenen Varianten, und vor allem die «viejos», die älteren und länger gereiften, treffen voll meinen Geschmack. Als Whiskyliebhaber muss ich feststellen, dass der bei uns erhältliche billige Fusel wirklich nicht das repräsentiert, was man hier unter Tequila versteht - denn das schmeckt wirklich gut.
Ja, eigentlich ist es wirklich gemütlich auf Holbox. Andererseits trauern wir auch ein wenig darüber, dass dieser einst so schöne Ort bald vollkommen kommerzialisiert sein wird. Nach einer Woche verlassen wir die kleine Insel mit einem lachenden und einem weinenden Auge.