Der Mut ist wie ein Regenschirm. Wenn man ihn am dringendsten braucht, fehlt er einem.
Fernand Joseph Désiré Contandin („Fernandel“ – Don Camillo), französischer Schauspieler und Sänger
Nach der Odyssee im Irrgarten von Giants Playground und nach vielen Stunden Fahrt erreichen wir das Gebiet am Fish River Canyon. Eigentlich war unser Ziel, dass wir noch heute in den Nationalpark gehen, damit wir morgen früh gleich weiterfahren können. Wir beschliessen aber, dass wir zuerst zur Lodge fahren und fragen, ob noch eine Campsite für uns frei ist. An der Gondwana Canyon Roadhouse Lodge machen wir Halt. Es gibt in diesem Gebiet nur zwei Lodges/Campsites, und das Roadhouse ist bedeutend billiger als die andere. Und zudem trifft es auch optisch genau unseren Geschmack, deswegen brauchen wir nicht lange überlegen. Schon bei der Einfahrt «begrüssen» uns die verrosteten, halb verfallenen Autowracks. Das ganze Gelände ist gesäumt mit alten Karossen - Blechruinen aus längst vergangener Zeit. Auch die Rezeption und das Restaurant lassen Autoträume wahr werden: überall alte Blechdosen, Schilder, Reklame- und Nummerntafeln, ja sogar im Innenraum stehen die alten Autos und Trucks. Das ist wirklich genau unser Geschmack. Wir werden herzlichst von Emily begrüsst. Die kleine Namibierin hat den richtigen «Schmäh» drauf und ist so offen und freundlich wie noch kein(e) andere(r) Namibier(in), seit wir angekommen sind. Generell erleben wir die Einwohner hier als wesentlich zurückhaltender als die Südafrikaner. Aber wir sind ja auch erst ein paar Tage unterwegs, dieser Eindruck kann sich durchaus noch ändern.
Wir überlegen uns ernsthaft, ob wir heute noch in den Nationalpark am Fish River Canyon fahren sollen. Am Horizont tauchen ungewöhnlich dunkle Wolken auf, und man hört ständig ein Rumoren und Grollen, dass immer näherkommt. Auch Emily rät uns, heute nicht mehr dorthin zu fahren. Und so beschliessen wir, es gut sein zu lassen – was sich 20 Minuten später als vollkommen vernünftige Entscheidung herausstellen wird. Wir wollen bei den extrem heissen Temperaturen noch den Sprung ins erfrischende Nass des Pools wagen, was wir auch sogleich tun. Aber kaum sind wir drinnen und geniessen die Abkühlung, wird der Wind noch heftiger und die ersten Regentropfen fallen vom Himmel. Wo wir auch hinsehen, es ist überall pechschwarz und kurz darauf beginnt es mit Blitz und Donner wie aus Eimern zu schütten. Wir flüchten in nasser Badebekleidung ins Roadhouse, ziehen uns dort um und setzen uns an den Tisch. So langsam kommt der Hunger, aber an Kochen ist im Moment ganz sicher nicht zu denken. Und so müssen wir wohl oder übel abwarten, bis sich das Wetter bessert.
Mehr als eineinhalb Stunden verharren wir im Restaurant. Es ist schon 19 Uhr. Unsere Mägen knurren ganz schön – und gerade in dem Moment als wir so weit waren, uns etwas zu essen zu bestellen, hört es auf zu Regnen. Wir fahren zur Campsite und bauen erstmal unser Dachzelt auf. Der Regen hat zwar aufgehört – nur noch ein paar einzelne Tropfen fallen vom Himmel – aber die dunklen Wolken schweben über uns und der Wind hat nicht wirklich nachgelassen. Und wie schon am Vortag stehen wir vor dem gleichen Problem: der Wind bläst unsere Flamme im Sekundentakt aus, und an vernünftiges Kochen ist gar nicht zu denken. Unsere Nerven liegen blank. Das erste Mal, seit wir in Windhoek gestartet sind – diese unbekannte Situation und die Probleme, die wir so noch nicht kannten, überfordern uns beide.
Der nächste Morgen ist schon viel freundlicher. Der Himmel ist wieder stahlblau, wie wir es gewohnt sind, und die Sonne zeigt sich ungetrübt. Wir packen alles zusammen, bauen alles ab und verstauen alles wieder im Auto – eine (oder mehrere) der Tätigkeit(en), die uns die nächsten Wochen mit Sicherheit begleiten werden. Wir fahren noch einmal ins Roadhouse an die Bar und verabschieden uns von Emily, die heute Frühdienst hat. Dann geht es los zum Fish River Canyon – dem zweitgrössten Canyon der Welt. DER WELT, meine Damen und Herren! Das ist eine ganz schöne Nummer. Die Fahrt dahin dauert von der Canyon Roadhouse Lodge nur etwa 30 Minuten, dann steht man am Eingang des Nationalparks. Natürlich ist wieder Eintritt fällig: 150 N$ pro Person, und 50 N$ für das Auto – macht in Summe also 350 N$ (ca. 19,- EUR für uns beide, Stand 02/2023). Weiter geht’s auf der Schotterpiste bis zum Rand des Abgrunds. Die erste Aussichtsplattform ist direkt vor uns. Als wir aussteigen und auf die Erhöhung zur Plattform gehen, bin ich echt baff. Wow, so etwas habe ich mir nicht erwartet. Die Canyon-Furche zieht sich quer durch das Land, so weit das Auge reicht. Es ist so gross und mächtig, dass ich erstmal ehrfürchtig am Geländer stehe und aus dem Staunen nicht rauskomme. Es ist unglaublich und faszinierend, was uns die Natur an Schönheiten bietet. Wir machen unzählige Bilder als allen möglichen Perspektiven, nur um später festzustellen, dass die Mächtigkeit und Anmut dieser gewaltigen Steinschlucht auf den Fotos nicht mal annähernd an die Realität heranreichen.
Wir haben bei der Routenplanung beschlossen, nicht den schnellsten Weg vom Fish River Canyon nach Lüderitz zu nehmen, sondern wollen die optisch wesentlich anspruchsvollere Route entlang der südafrikanischen Grenze nehmen. Wie sich herausstellt ist das die Entscheidung des Tages! Einerseits haben wir den Vorteil, dass wir nicht die gleiche Route vom Fish River Canyon zurück nach Keetmanshoop fahren müssen und so sehen wir mehr vom Land. Und der andere Vorteil: die Strecke ist wirklich atemberaubend schön! Okay, zugegeben: die Landschaft ist sicherlich nicht jedermanns Sache. Es gibt ewig lange Landstriche, wo sich links und rechts die Steinhügel auftürmen. Dazwischen die Schotterstrasse. Viel Sand, wenig bis gar kein Grün, karg und verlassen. Aber gleichzeitig auch unheimlich faszinierend. Uns kommt den ganzen Tag so gut wie kein einziges Auto entgegen. Geschweige denn werden wir von einem überholt oder müssen eines überholen. Wir ziehen eine mehrere hundert Meter lange Staubwolke hinter uns her. Die Landschaft wechselt ständig, die Farben auch. Mal ist der Sand nahezu schneeweiss, und wenn wir es nicht besser wüssten, würden wir sagen wir fahren auf einer Skipiste. Dann ändert sich plötzlich wieder alles und es wird beige, braun, schwarz, grau, stahlblau oder ockerbraun. Alle Erdfarben sind dabei. Mal fühlt es sich an wie in der chilenischen Salzwüste, mal glaubt man durch die kargen Berge des Nahen Ostens, durch Pakistan zu reisen. Obwohl ich an beiden Orten noch nicht war, bekomme ich den Eindruck, genau jetzt in diesem Augenblick da zu sein. Ich bin einfach fasziniert, ich fühle mich wie ein kleiner Schuljunge und ich kann mich an dem Anblick nicht sattsehen. Ich möchte das fesselnde Gefühl gerne festhalten und nicht mehr loslassen. Wenn wir stehenbleiben und aussteigen, ist es still. So still, wie wir es schon lange nicht mehr hatten. Man hört nur das leise Säuseln des Windes, ansonsten nichts. Absolute Ruhe. Keine Motoren, keine Vögel, kein Fremdgeräusch. Unglaublich.
Die Zeit vergeht wie im Flug und die Landschaft wechselt fast im 10-Minuten-Takt ihre Farben. Ungefähr 100 km vor Lüderitz erreichen wir das Gebiet der berühmten Garub- oder Namib-Pferde. Die Herkunft dieser wilden Wüstenpferde war jahrzehntelang unklar. Nach offizieller Ansicht stammen die Pferde aus einer Pferdefarm der deutschen Kolonialzeit. In den Wirren des Ersten Weltkriegs sind die Pferde dann offenbar getürmt und machten sich dann selbst auf die Suche nach Nahrung und Wasser. Seitdem sind sie in diesem Gebiet heimisch. Nach einer 5jährigen Dürrezeit gelten die Tiere seit 2017 als vom Aussterben bedroht. Da war die Anzahl auf lediglich 115 Tiere geschrumpft. Im darauffolgenden Jahr war die Rede von nur noch 80 Tieren. Die zunehmende Population von Hyänen sorgte zudem dafür, dass von vier Fohlen im Schnitt nur eines überlebte. Zunächst wollte das Umweltministerium und die Namibia Wild Horses Foundation die Tiere umsiedeln. Doch anstatt der Pferde wurde begonnen, die Hyänen umzusiedeln. So ist der Bestand per Anfang Februar 2020 wieder auf 86 Tiere angewachsen.
Wir machen Halt an der Wasserstelle, wo sich statt der Namib-Pferde eine Herde Strausse tummelt. Die Wasserstelle ist künstlich angelegt, und natürlich bedienen sich hier alle Arten von Tieren daran, denn im Umkreis von ein paar hundert Kilometern ist absolut nichts Ess- oder Trinkbares zu finden. Nach einiger Wartezeit werden wir dann doch noch mit einem kurzen Blick auf drei der Pferde belohnt. Sie holen sich kurz ihre Wasserration und ziehen anschliessend wieder von dannen.
Wir fahren weiter – der nächste kurze Stopp ist immer noch gute 80 km von Lüderitz entfernt. Hier steht das alte Bahnhofshaus von Garub. Einer der unzähligen «Lost Places». Das Bahnhofsgebäude ist verlassen, halb verfallen und hat natürlich längst keine Funktion mehr. Doch wir lieben solche Orte. Wir schiessen einige Fotos vom Gebäude und von den Schienen, die hier hunderte Kilometer in beide Richtungen führen. Als Magdalena die eher rhetorische Frage stellt, ob hier wohl noch Züge fahren, muss ich schmunzeln und sage selbstbewusst, dass hier seit vielen Jahren garantiert GAR NICHTS mehr gefahren ist. Ist ja auch Unsinn – wer soll denn hier noch fahren? Und wozu? Wir spazieren die Gleise auf und ab, machen noch ein paar Bilder und setzen uns dann wieder ins Auto.
Die Bahnschienen verlaufen parallel zur Strasse entlang, und als wir etwa 10 km weiter in Richtung Lüderitz fahren, sehen wir am Horizont eine Rauchwolke. Es ist der Zug, der sich mühsam die leichte Steigung erkämpft. Genau auf den Schienen, von denen ich keine 5 Minuten vorher behauptet hatte, hier fahre nichts mehr. Ich rolle mit meinen Augen, atme tief durch, sage nichts und denke mir einmal mehr, dass ich besser meine besserwisserische Klappe gehalten hätte. Ich spüre, wie Magdalena innerlich grinst, aber ich lasse mir das nicht anmerken. Ich dreh das Radio lauter, was eh nichts bringt, da nur Störgeräusche rauskommen. Aber egal.